Neue Zürcher Zeitung

5. September 2015

Ein unheimlich leises Beben

Das Schweizer Fernsehen überrascht mit dem bisher besten „Tatort“ des Jahres.

Mit einem Schweizer Wurf nach dem flauen ersten «Tatort»-Halbjahr hat keiner gerechnet: Der Suspens-Thriller «Ihr werdet gerichtet» nimmt einen Täter aus Rache ins Visier und erweist sich als Meisterstück.

Dieser Film verliert keine Zeit und kommt sofort auf den Punkt. Wenn das Fernsehpublikum nach zweieinhalb Minuten weiss, wer der Täter ist, hat der bereits zwei junge albanische Autohändler erschossen und trägt das Köfferchen, in dem er Waffe und Schalldämpfer aufbewahrt, wieder sorgsam in seine Werkstatt zurück: Ein kurzer Kontrollblick auf zwei frühere Fotos von den Getöteten – huscht da Satisfaktion übers Gesicht?

In diesem aussergewöhnlichen «Tatort» geht es nicht um die Suche nach dem Mörder. Das heisst: Für die Ermittler geht es selbstverständlich darum, aber diese stehen hier nicht wie so oft im Zentrum. «Sieht aus wie eine Exekution», sagt die Frau von der Spurensicherung mit Blick auf die in ihrer Hirnmasse liegenden Toten. Schon am nächsten Tag wird ein dritter Mann nach dem gleichen Muster auf offener Strasse erschossen, was auf einen Serientäter schliessen lässt. Das beschauliche Luzern ist in Angst und Schrecken versetzt, und selbst Polizeichef und Berufsbehinderer Mattmann (Jean-Pierre Cornu) lässt flugs eine Task-Force samt Scotland-Yard-Profiler zusammenstellen. Bald wird klar, dass man es mit einem Heckenschützen zu tun hat, der aus einer posttraumatischen Verbitterung heraus Selbstjustiz verübt, worauf der Titel dieses Films – «Ihr werdet gerichtet» – anspielt.

Der neunte «Tatort» aus Luzern überzeugt nicht nur als klassischer Suspense-Thriller, in dem die Polizei dem Täter immer ein Stück hinterherhinkt. Der Film blickt tief in die Seelen seiner psychologisch fein gezeichneten Figuren (Drehbuch: Urs Bühler), und was er zutage befördert, ist nur schwer zu ertragen. Der Sniper Simon Amstad, ein Michael Kohlhaas unserer Zeit, graviert seine Wut über die Unzulänglichkeiten des Justizsystems als Paragrafenzeichen minuziös in die Projektile ein, bevor er sie seinem nächsten, mit Sorgfalt ausgewählten Opfer zielsicher in den Kopf jagt. Danach holt er auf dem Heimweg Gipfeli für seine Frau Karin (Sarah Hostettler), die tagaus, tagein stumm in der Wohnung sitzt und offensichtlich der Grund ist für seine Wut.

Welches Trauma die Ehe der beiden in ihrer wortlosen Verzweiflung überschattet, erfahren wir nebenbei. Leise realisiert sich hier das Bild vom Täter als armem Teufel, weil Amstad in dieser Ehehölle seine Strafe eigentlich schon längst verbüsst hat; «Ihr werdet gerichtet» ist auch eine berührende Liebesgeschichte. Von jener im Sonntagabendkrimi so gerne pflichtschuldig durchbuchstabierten Trivialpsychologie über den Täter als Opfer ist der Film dabei um viele Nuancen entfernt. Nicht nur, weil hier alle nachhaltig vom Leben beschädigt sind, auch der mit dem Ehepaar befreundete Simic (Misel Maticevic) mit seiner grauenvollen Erfahrung aus dem Jugoslawienkrieg

Amstads Selbstjustiz erweist sich in ihrem Irrsinn, wonach es Gerechtigkeit nicht gebe, «ausser man stellt sie selber her», nur als letzte Konsequenz eines hier öfter entgleisenden individuellen Rechtsgefühls, mit dem etwa Kommissar Flückiger (Stefan Gubser) einem unwilligen Zeugen eine Ohrfeige verpasst. Gut und Böse verschwimmen zusehends, und der Schweizer Regisseur Florian Froschmayer inszeniert dieses Krimidrama über das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit in konsequenter Härte, archaischer Atmosphäre und einem überraschenden, bitteren Ende. Dabei spielt ihm der Hauptdarsteller Antoine Monot, Jr. in seiner Sparsamkeit der Mittel grandios in die Hand. Sein Scharfschütze ist kein kaltblütiges Monster und kein Psychopath, sondern ein Mensch, dem die ganze Ungerechtigkeit der Welt zu sehr auf den Schultern lastet. Es ist schlicht grossartig, wie Monot aus seinem bärenhaft wirkenden, atypischen Mörder in der Bäckerei wegen eines vordrängenden Kunden leise Irritation hervorbrechen lässt. Das innere Beben, das letztlich in die Katastrophe mündet, ist fortan zwar nicht sichtbar, aber es weicht nicht mehr aus dem Bild.

Dieser «Tatort» hat nichts von der uninspirierten Routine, mit der das beliebte Format in letzter Zeit seine Fälle löste. Auch Flückiger und seine Kollegin Liz Ritschard (Delia Mayer) sind moralisch gefordert, wenn sie sich in der unangenehmen Rolle wiederfinden, potenzielle Mordopfer warnen zu müssen, weil diese als Vergewaltiger, Raser und Schläger ins Visier des Rächers geraten könnten. Und wem die wiederholt gross ins Bild gemalten Blutlachen hier zu realistisch sind, der muss sich ehrlicherweise fragen, wo die Grenzen des sonntäglichen Mordsvergnügens denn eigentlich zu ziehen wären. Nach dem Prinzip des Wohlfühlfernsehen sieht Mord in der familientauglichen Variante mancherorts nurmehr wie klamaukhafte Harmlosigkeit aus. «Ihr werdet gerichtet» hält hier dagegen und nimmt selbstkritisch die eigenen Bedingungen unter die Lupe, ohne einem den Spass zu verderben – wenn man das in diesem Fall überhaupt so sagen kann.

Autorin: Claudia Schwarz

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